Vor zwei Jahren ist Ecrin I.* mit ihrer Familie aus der Türkei in die Schweiz geflüchtet: Ecrin I.* war in der Türkei Richterin. Ihr Asylantrag ist noch hängig.
«Ich bin ehemalige Richterin und bis zum sogenannten Putschversuch habe ich neun Jahre lang als Richterin gearbeitet. Dann musste ich die Türkei mit meiner Familie aus politischen Gründen verlassen. Nach einer gefährlichen Reise bin ich über Griechenland in die Schweiz gekommen. Mit dem N-Ausweis bin ich noch kein anerkannter Flüchtling. Das heisst, ich muss auf meine Anhörung warten und darf in der Schweiz in der Zwischenzeit keine Erwerbstätigkeit ausüben. Ich habe jetzt zwar eine ungewisse Zukunft, schätze mich aber trotzdem glücklich, weil ich mit meiner Familie zusammen und frei bin.
Seit einigen Wochen erleben wir nun eine aussergewöhnliche Zeit. Wer hätte gedacht, dass wir eines Tages einmal alle zu Hause bleiben sollen? Wenn wir doch einmal nach draussen gehen, halten wir zwei Meter Abstand voneinander, tragen Masken und Handschuhe. Es kommt mir so vor, als müssten wir noch für eine Weile weiter so leben.
Das Beste an diesen schwierigen Tagen ist, dass die ganze Menschheit gegen einen gemein-samen Feind kämpft. Vielleicht ist es das erste Mal, dass die Menschheit ausnahmslos im gleichen Rang steht. Jeder träumt von besseren Tagen und arbeitet für eine gesündere Welt. Das tröstet mich. Vielleicht haben wir, nachdem wir diesen Prozess überwunden haben, erkannt, dass wir auch viele andere Probleme gemeinsam lösen müssen.
Vor dem Coronavirus kümmerte ich mich morgens um meine drei Kinder und den Haushalt. Nachmittags überliess ich die Kinder meinem Mann, der vom Deutschkurs nach Hause kam, und ging nach Winterthur, um selbst im Kurs Deutsch zu lernen. Wenn ich nach Hause zurückkam, hütete ich wieder die Kinder und lernte weiter Deutsch, nachdem die Kinder eingeschlafen waren. Die Pandemie hat nun alles verändert. Ich habe mich mit meinem Mann sehr bemüht, das Richtige zu tun. Wie Millionen von Menschen bleiben wir zu Hause. Kurse, Schulen und alle gemeinsam besuchten Orte wurden geschlossen. Wir haben jetzt mit Heimunterricht angefangen. Gleichzeitig soll ich meinen drei Kindern beim Deutschunterricht helfen. Im Moment lerne ich Deutsch und unterrichte Deutsch. Ich verbringe meine Tage also zu Hause auf Deutsch.
Wenn ich Zeit habe, gehe ich spazieren, vor allem bei schlechtem Wetter, weil dann die Strassen leer sind. Auch verständige ich mich mit meinen Eltern über das, was bei uns und bei ihnen in der Türkei passiert. Dort wird die Lage wegen des Virus immer schlimmer. Meiner Familie geht es gut, aber mir bereiten die Gefängnisse in der Türkei Sorgen. Tausende unschuldige Menschen werden aus politischen Gründen festgehalten, darunter Frauen mit ihren Babys.
Ich hoffe, dass die Schweizer, denen ich dankbar bin, und alle Völker der Welt, diese Epidemie so schnell wie möglich loswerden. Ich hoffe, wir sehen uns bald an gesunden Tagen wieder auf der Strasse und in Parks, geben uns die Hand und umarmen uns ohne Angst.»
Aufgezeichnet von Bernd Kopp
IFP-Vorstandsmitglied – Ressort Migration
*Der Name ist geändert. Dieses Interview wurde bereits vom Solinetz publiziert.